Entstehung & Aufrechterhaltung

Wie entstehen Zwangsstörungen und wie werden sie aufrechterhalten?

Zwangsstörungen können verschiedene Ursachen haben. Zumeist sind viele verschiedene Faktoren (wie einzelne "Mosaiksteine") daran beteiligt, dass eine Zwangsstörung entstanden ist. Dies sind genetische Faktoren und eine gestörte Balance von Hirnbotenstoffen, aber vor allem auch ungünstige Lernerfahrungen (meist schon im Kindes- und Jugendalter) und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale. Aufrechterhalten wird eine Zwangsstörung über einen sich selbst verstärkenden Teufelskreis.

Heutige Modelle der Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwangsstörungen sind sogenannte "multifaktorielle Modelle". Diese Modelle gehen davon aus, dass eine Vielzahl verschiedener Faktoren und deren Wechselwirkung dazu beitragen, dass eine Zwangsstörung entsteht und oft über Jahre bestehen bleibt. Das Herausarbeiten von individuellen Faktoren der Betroffenen ist ein wichtiger Schritt in der Psychotherapie.

Was macht möglicherweise für Zwänge empfänglich?

Biologische Faktoren:

Möglicherweise haben Betroffene eine gewisse genetische Veranlagung für das Ausbilden von Zwangssymptomen. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass für Angehörige von Menschen, die an einer Zwangsstörung leiden, ein 3- bis 12-fach erhöhtes Risiko besteht, ebenfalls an einer Zwangsstörung zu erkranken. Womöglich ist dieser genetische Einfluss bei Zwangsgedanken und bei einem frühen Beginn der Störung besonders hoch. Heute wird zudem davon ausgegangen, dass Zwänge mit einer Überaktivität in bestimmten Hirnregelkreisen einhergehen, so dass automatische Handlungsimpulse schlechter gehemmt werden können. Auch scheinen bestimmte Botenstoffe im Gehirn (sogenannte "Neurotransmitter", v.a. Serotonin, aber auch Noradrenalin) nicht ausreichend vorzuliegen, was den positiven Effekt einer begleitenden medikamentösen Behandlung bei schweren Zwangsstörungen erklärt.

Psychologische Faktoren:

Entscheidend für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangserkrankungen sind bestimmte Lernerfahrungen, Lebensereignisse und Persönlichkeitsfaktoren. Häufige Kindheitserfahrungen, die Menschen mit Zwängen gemacht
haben, sind seitens des Elternhauses hohe Leistungserwartungen und Strenge, hohe moralische Standards und ein eher überbeschützender Erziehungsstil, welcher wenig Autonomie ermöglichte. Als überdauernde Persönlichkeitsfaktoren können bei den Betroffenen dann z.B. Perfektionismus, verinnerlichte hohe Standards, erlebte hohe Verantwortlichkeit, Ängstlichkeit und hohe Angepasstheit an Normen und Wertvorstellungen entstehen.

Wichtig ist es auch, dem Zeitpunkt des ersten Auftretens der Zwangssymptomatik vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken. Sind die Zwänge in einer spezifischen Belastungssituation erstmalig aufgetreten? Nicht selten berichten Betroffene, dass das erste Auftreten der Zwänge in einer Zeit lag, in welcher sie mit neuen Anforderungen umgehen mussten (beispielsweise der Auszug von zu Hause, der Beginn des Berufslebens). Bei einigen Betroffenen bestehen die Zwänge
jedoch auch seit der frühen Jugend und zeigen einen chronischen, oft auch wechselhaften Verlauf. Entscheidend ist, dass zumeist kein einzelner Faktor für sich alleine die Entstehung der Zwangsstörung bedingt, sondern dass verschiedene
Mosaiksteine aus Biologie, Kindheit, Persönlichkeit und speziellen Lebenserfahrungen zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Zwangsstörung zu der Entwicklung des Zwanges beigetragen haben.

Wie werden Zwangsstörungen aufrechterhalten?

Es gibt verschiedene Gründe, warum ein Zwang trotz der hohen " Kosten" und des Leidens, die er jeden Tag verursacht, ein so hartnäckiger Begleiter werden kann. Ein Grund besteht darin, dass möglicherweise die Faktoren, die zur
Entstehung des Zwanges geführt haben, weiterhin bestehen. Ganz entscheidend dafür, dass eine Zwangsstörung aufrechterhalten wird, ist ein sich selbst verstärkender Teufelskreis der Zwangsstörung.

Der Teufelskreis der Zwangsstörung:

Entscheidend für die Aufrechterhaltung des Zwanges sind vor allem Gedanken, die während einer Zwangshandlung auftreten, sowie die gedanklichen und gefühlsmäßigen Folgen der Zwangshandlung.
Man geht davon aus, dass aufdringliche Gedanken (z.B. "Ist der Herd aus?") zunächst völlig normal sind und bei vielen Menschen vorkommen. Problematisch wird ein aufdringlicher Gedanke dadurch, dass ihm eine abnorme und mit Gefahr verbundene Bedeutung zugeschrieben wird. Diese Interpretation führt dann zu Angst und Unruhe, der Betroffene erlebt einen starken Handlungsbedarf ("Ich muss das kontrollieren, sonst passiert etwas Schlimmes und ich bin schuld!"). Wird dem Handlungsimpuls dann nachgekommen, d.h. wird z.B. die Kontrollhandlung ausgeführt, führt dies zu einer kurzzeitigen Beruhigung. Gleichzeitig ist das Ausführen der Kontrollhandlung aber auch ein Signal dafür, dass die hohe Bedeutung des Gedankens angemessen war ("Gut, dass ich noch mal nachgeschaut habe, wer weiß, was sonst passiert wäre!"). Auf diese Weise ist ein Teufelskreis entstanden, der den Zwang aufrechterhält, und der im Verlauf der Behandlung durchbrochen werden muss.

Hier ist der Teufelskreis der Zwangshandlungen noch einmal bildlich dargestellt:

Treten Zwangsgedanken auf, die einen aggressiven oder sexuellen Inhalt haben (oder einen sonstigen Inhalt, der Schuldgefühle hervorruft), sieht der Teufelskreis meist folgendermaßen aus: Ein aggressiver Gedanke (z.B. "Ich könnte meiner Freundin etwas antun.") wird als gefährlich interpretiert. Der*die Betroffene hält diesen Gedanken für zutreffend ("Der Gedanke könnte wahr werden, ich könnte das tatsächlich tun."). Als Folge versucht der*die Betroffene, diesen Gedanken zu vermeiden ("Bloß nicht daran denken, wer weiß, ob ich das sonst tue.") oder durch "Gegengedanken" zu "neutralisieren"
("Schnell an etwas anderes denken"). Teilweise schließt sich hier ein gedankliches Ritual an (das kleine 1x1 aufsagen, ein Gedicht oder Gebet aufsagen, zählen..).

Als Folge dieser Gedankenkontrolle werden die Zwangsgedanken jedoch nicht weniger, sondern mehr. Das ist ganz ähnlich, als würde man versuchen, nicht an einen rosa Elefanten zu denken: in dem Moment, wo man dies mit aller Macht versucht, lässt einen der aufdringliche Gedanke gar nicht mehr los. Man denkt ständig wieder an den rosa Elefanten.

Hier ist der Teufelskreis der Zwangsgedanken noch einmal bildlich dargestellt:

Manchmal sind es auch scheinbar banale Faktoren, die ein Aufrechterhalten der Zwänge ermöglichen. Die Zwänge sind oft stärker, wenn man innerlich unter Anspannung steht, unter Zeitdruck ist, wenig geschlafen hat etc. Hier kann eine Protokollierung der Zwänge dazu dienen, ungünstige Lebensgewohnheiten zu identifizieren. Häufig hat eine psychische Störung, neben dem Leiden, das sie verursacht, "positive" Nebeneffekte für die Betroffenen. Z.B. kann es sein, dass der Zwang dabei "hilft", sich mit bestimmten schwierigen Situationen und Defiziten nicht auseinandersetzen zu müssen. In diesen Fällen spricht man von einer "Funktionalität" des Zwanges. Vielleicht ist der Zwang erstmalig in einer Lebensphase aufgetreten, in welcher der*die Betroffene sich vermehrt gegen die Anforderungen der Mitmenschen abgrenzen musste. Wenn diese Abgrenzung schwer fällt, kann der Zwang die schwierige Aufgabe der Abgrenzung für den Erkrankten übernehmen.

Die biografisch-systemische Analyse gemeinsam mit einem*r Therapeut*in wird hier die relevanten "positiven Funktionen" des Zwanges herausstellen. Anhand dieser Analyse wird hier schon deutlich, dass es sich bei der Behandlung des Zwanges nicht um eine reine Behandlung des Symptoms handeln kann, sondern dass auch diese "Faktoren im Hintergrund" in der Behandlung berücksichtigt werden müssen.