Entstehung & Aufrechterhaltung

Wie entstehen soziale Phobien und wie werden sie aufrechterhalten?

Soziale Phobien können verschiedene Ursachen haben. Zumeist sind viele verschiedene Faktoren (wie einzelne "Mosaiksteine") daran beteiligt, dass eine soziale Phobie entstanden ist. Dies sind genetische Faktoren und eine gestörte Balance von Hirnbotenstoffen, aber vor allem auch ungünstige Lernerfahrungen (meist schon im Kindes- und Jugendalter) und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale. Aufrechterhalten wird eine soziale Phobie meist über einen sich-selbst-verstärkenden Teufelskreis.

Heutige Modelle der Entstehung und Aufrechterhaltung der sozialen Phobie sind sogenannte "multifaktorielle Modelle". Diese Modelle gehen davon aus, dass eine Vielzahl verschiedener Faktoren und deren Wechselwirkung dazu beitragen, dass eine soziale Phobie entsteht und oft über Jahre bestehen bleibt.
Das Herausarbeiten der individuellen Faktoren eines Betroffenen ist ein wichtiger Schritt in der Psychotherapie.

Was macht also möglicherweise für eine soziale Phobie empfänglich?

Biologische Faktoren:

Man geht davon aus, dass es eine gewisse genetische Vorbelastung für Angststörungen gibt. Beispielsweise haben Kinder von Eltern mit Angststörungen ein 3,5-fach erhöhtes Risiko, ebenfalls eine Angststörung auszubilden. Es wird von einer Erblichkeit von 30-50% ausgegangen.
Zusätzlich wird davon ausgegangen, dass die Balance bestimmter Botenstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn gestört ist. Insbesondere wird davon ausgegangen, dass die Balance der Botenstoffe Serotonin, Noradrenalin und Dopamin gestört ist.  Dies erklärt auch, warum in schweren Fällen eine zusätzliche medikamentöse Behandlung mit sogenannten "selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI)" hilfreich sein kann. Auch scheinen Hirnbereiche, die für die Verarbeitung und Speicherung emotionaler Inhalte verantwortlich sind (der sog. "Mandelkern") überaktiv zu sein, so dass neutrale Reize schneller als bedrohlich interpretiert werden können.

Psychologische Faktoren:

Noch entscheidender für das Entstehen und die Aufrechterhaltung einer sozialen Phobie sind bestimmte Lernerfahrungen, Lebensereignisse und Persönlichkeitsfaktoren: Menschen, die an einer sozialen Phobie erkranken, haben häufig bereits im Kindes- und Jugendalter bestimmte ungünstige Erfahrungen gemacht, die nun den "Boden" der Störung bereiteten.

Dies sind häufig ein überbehütend-beschützender Erziehungsstil der Eltern (ähnlich wie bei anderen Angsterkrankungen), bei der Betroffene als Kind übermäßig stark kontrolliert und eingeschränkt wurden. Betroffene konnten so nicht in ausreichendem Maße selbständiges und autonomes Handeln lernen. Aber auch das gegenteilige Elternverhalten kann sich ungünstig auswirken: zeigen Eltern ein gleichgültig-instabiles Verhalten, kann sich beim Kind die Überzeugung ausbilden, dass Kontakte zu anderen unvorhersehbar und gefährlich sind. Die Eltern von Menschen mit sozialer Phobie hatten häufig nur wenig soziale Kontakte. Dadurch konnten Kinder bestimmte soziale Fähigkeiten nur begrenzt lernen, und soziale Kontakte wurden eher als etwas Besonderes, möglicherweise Bedrohliches gesehen. Oft haben die Eltern auch übermäßig viel Wert auf die Meinungen Dritter gelegt, was zu einer hohen Bewertungs- und Kritikangst der Betroffenen führen konnte. Andere Persönlichkeitsfaktoren, die eine soziale Phobie mitbedingen können, sind übermäßige Vorsicht, Perfektionismus und ein niedriges Selbstwertgefühl.

Konkret ausgelöst wird eine soziale Phobie dann meistens dadurch, dass auf diesen "bereiteten Boden" ein spezielles Belastungserlebnis trifft. Dieses kann ein kritisches Lebensereignis oder eine Überforderungssituation sein (z.B. der Eintritt ins Berufsleben mit neuen sozialen Anforderungen). Auch soziale Traumatisierungen (z.B. das Erleben von Ausgrenzung und Mobbing, schamhafte Erlebnisse in der Öffentlichkeit) können eine soziale Phobie auslösen.

Wie wird eine soziale Phobie aufrechterhalten?

Oftmals wird eine soziale Phobie dadurch aufrechterhalten, dass die Faktoren, die dazu geführt haben, dass die soziale Phobie entstanden ist, weiterhin bestehen. Liegen also weiterhin z.B. Perfektionismus, übermäßige Vorsicht und ein nur geringer Selbstwert vor, so halten eben diese Faktoren die soziale Phobie aufrecht.
Häufig hat eine psychische Störung, neben dem deutlichen Leiden, das sie verursacht, außerdem "positive" Nebeneffekte für die Betroffenen. Es kann zum Beispiel sein, dass die soziale Phobie dabei "hilft", sich mit bestimmten schwierigen Situationen und Defiziten nicht auseinandersetzen zu müssen. In diesen Fällen spricht man von "Funktionalitäten" der Störung. Ob derartige Funktionalitäten vorliegen und welche dies sind, wird im Verlauf einer Therapie herausgearbeitet.
Zudem wird eine soziale Phobie durch einen sich selbst verstärkenden "Teufelskreis" aufrechterhalten, wie er hier (vereinfacht) dargestellt ist:

Der Teufelskreis der sozialen Phobie:

Der Teufelskreis der sozialen Phobie besteht darin, dass Betroffene in Angstsituationen ihre Aufmerksamkeit übermäßig stark auf sich selber richten, körperliche Angstsignale vor anderen zu verdecken versuchen und die Situation nachträglich übermäßig kritisch bewerten. Dieses Verhalten führt langfristig zu einer Aufrechterhaltung und Verstärkung der Ängste.

Stellen Sie sich folgende Situation vor:

Peter B., ein von sozialer Phobie Betroffener, tritt in der Kantine mit seinem Tablett an den Tisch seiner Kolleg*innen. Aufgrund bestimmter ungünstiger Lebenserfahrungen (beispielsweise haben sich in seiner Schulzeit häufig Mitschüler*innen über seine angebliche "Ungeschicklichkeit" lustig gemacht) ist er in sozialen Kontakten darum bemüht, nicht unangenehm aufzufallen und ist entsprechend ängstlich und angespannt. In der Kantinen-Situation hat er nun die Befürchtung, die anderen könnten nur darauf warten, dass er sein Essen verschüttet und sich lustig machen und entwickelt den Gedanken, "jetzt bloß keinen Fehler machen!". Um Fehler zu vermeiden, richtet der Betroffene seine Aufmerksamkeit auf sich selber, betrachtet z.B. sehr konzentriert seine Hände, die das Tablett umklammern. Durch diese verstärkte Selbstaufmerksamkeit nimmt der Betroffene dann auch die Zeichen seiner Anspannung und Angst verstärkt wahr (z.B. den erhöhten Herzschlag, das Erröten und Zittern). Das wiederum führt zu noch stärkeren Körperreaktionen. Auch diese Körperreaktionen sind jetzt Gegenstand der Gedanken ("Hoffentlich bemerken die anderen jetzt nicht, dass ich schon wieder zittere! Wie peinlich!"). Diese Gedanken verstärken wiederum die Körperreaktionen, so dass ein Teufelskreis entsteht.

Zudem versucht der Peter B., seine Angst und seine körperlichen Angstsymptome zu bewältigen, indem er sich über (ein oftmals ausgeklügeltes) System abzusichern versucht (beispielsweise wählt der Betroffenen extra Speisen aus, welche nicht überschwappen können, oder er versteckt seine zitternden Hände unter den Ärmeln seines Pullovers). Zunächst scheint diese Absicherung tatsächlich eine hilfreiche Strategie zu sein, verringert sie doch in diesem Moment die auftretende Angst. Längerfristig verstärkt die Absicherung jedoch den Teufelskreis. Denn durch diese Absicherung verhindert der Betroffene, sich mit seiner Angst und mit den tatsächlichen Reaktionen der Mitmenschen auseinander zu setzten (Lachen die ihn tatsächlich aus, wenn ein Teil der Suppe überschwappt oder seine Hände zittern? Bekommen die das überhaupt mit?).

Angst und Absicherung (Vermeidung) beeinflussen sich also wechselseitig. Kurzfristig reduziert das Absicherungsverhalten die Angst, langfristig hält es die Angst aber aufrecht.

Ist die Situation durchstanden, neigen Menschen mit sozialer Phobie dazu, eigene Fehler und Misserfolge überzubewerten und lassen an ihrem eigenen Verhalten zumeist "kein gutes Haar". Diese "Kritikbrille" bestätigt scheinbar das negative Selbstbild als sozial unzulänglich und steigert die Angst vor neuen Situationen. Auch haben Menschen mit sozialer Phobie meist hohe Standards und eine idealisierte Vorstellungen von kompetentem Sozialverhalten. Diese idealisierten Vorstellungen stehen dann noch einmal in besonderem Kontrast zu der erlebten eigenen Unzulänglichkeit.

Übermäßige Selbstkritik und hohe Standards halten die Angst langfristig aufrecht. Durch überstarke Selbstaufmerksamkeit, Absicherungsverhalten und übermäßige Selbstkritik ist ein Teufelskreis entstanden, der in der Therapie bearbeitet wird.